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Gehenna

von Anonym

Leise knirschten die Steine des Wegen unter ihren Schritten, während sie, von Dunkelheit umhüllt, durch den leeren Park schritt. Ihre Augen huschten durch die Nacht, sahen mehr, als sie hätte sehen sollen.
Ein leichter Wind wehte ihr entgegen, brachte den klaren, kalten Geruch nach Schnee und Eis mit sich und ließ die letzten Blätter in den sonst so kahlen Bäumen sanft rascheln. Dieses leise Flüstern der toten Blätter veranlasste sie dazu, den Kopf zu heben und die Augen zu schließen.
In einer langsamen Bewegung breitete sie die Arme aus und spürte, wie der Wind gleichzeitig stärker wurde.
Der Geruch von Eis wurde überlagert von etwas anderem. Alt und staubig. Luft, die schon seit Jahrhunderten über die Erdkugel wehte und bereits mehr gesehen hatte, als jeder Mensch, jeder Vampir, jeder Werwolf sich hätte vorstellen können.
Sie wurde leichter, immer leichter, bis sie schließlich vom Wind emporgetragen wurde. Hinweg über die Lichter ihrer Heimatstadt, durch die sie bereits mehr als zwei Jahrzehnte wandelte. Hinweg auch über die umliegenden Städte und Dörfer ihrer Heimat und hinaus aufs Meer.
Sie wusste bereits, wo ihr Ziel liegen würde. Sie wusste, wer sie dort erwartete.
Auf ihrem Weg dorthin sah sie Menschen, sah sie Vampire, sah sie Werwölfe und andere Wesen. Kreaturen, deren Namen weder sie noch ein anderen Kainskind kannte, von denen niemand wusste, dass sie überhaupt existierten. Kreaturen von so unglaublicher Dunkelheit, dass selbst sie, die schon alles gesehen hatte, den Blick abwenden musste.
Lieber konzentrierte sie sich auf das Ziel ihres Fluges, ein helles Licht in dem sonst so dunklen Land, in dem alles seinen Ursprung hatte.

Nod.

Heimat des ersten ihrer Art.

Heimat des allmächtigen Vaters.


Die sanften Schwingen des Windes setzten sie sanft in einer Stadt ab, die es schon seit Jahrtausenden nicht mehr gab.
Die Luft schmeckte alt, so uralt und staubig wie sie es nur hier konnte. Hier in der Stadt, die Anfang und Ende bedeutete.
„Kind,“ sprach eine leise Stimme, so dunkel und seidig wie die Nacht, die sie beide umgab. „Der Wind hat dich geleitet und wieder hast du deinen Weg zu mir gefunden.“
Leicht berührte er ihre Schulter, kaum mehr Druck als eine Feder. „Komm mit mir, denn ich habe dir etwas zu zeigen.“
Seine bleichen Hände ergriffen ihren Arm und zogen sie mit sich zur Mitte der Stadt, hin zu dem weißen Palast, der alles überragte.
Schweigend durchquerten sie die leere Stadt und betraten die erste Ebene des Palastes Ghemal. Niemand war zu sehen und doch wusste sie, wer hier einst residiert hatte. Sie sah ihn, Irad, den dritten Sohn des Vaters, der die sterblichen Armeen der Ersten Stadt führte. Sie sah den eisernen Thron, auf den sich der Vater für gewöhnlich zu setzen pflegte, um Gericht über seine Untertanen zu halten. Heute jedoch nicht, denn der Vater war bei ihr und führte sie weiter.
Die zweite und dritte Ebene des Palastes ließen sie unbeachtet hinter sich, ebenso die vierte, bis sie vor den Türen der fünften Ebene standen. Einer Ebene, die bisher noch niemand, sei er sterblich oder unsterblich, je betreten, ja nicht einmal gesehen hatte.
Diese Türen waren es, die der allmächtige Vater nun öffnete.
Wo vorher noch Dunkelheit geherrscht hatte, erstrahlte nun ein helles, warmes Licht, dass sie beide umfing.
„Sieh mich an, Kind.“
Langsam wandte sie sich um und hob ihren Blick, um das Antlitz des Vaters zu erblicken. Was sie dort sah, ließ sie erstarren. Kein Wort brachte sie heraus, nicht einmal der Schrei, der sich in ihrer Kehle bildete, konnte sich lösen.
„Es ist Zeit, Kind. Bereite dich darauf vor, denn Gehenna wird kommen.“
Seine Worte verklangen im Wind, der wie ein Sturm über sie beide hinwegfuhr und sie mit sich riss, zurück in den leeren Park, in dem das einzige Geräusch das sanfte Rascheln der Blätter war.
Friedlich, als wäre nichts geschehen.
Doch sie wusste es besser.
Sie hatte dem allmächtigen Vater ins Gesicht geblickt und gesehen, wie sein Mal unheilschwanger leuchtete.
Sie hatte in seine Augen geblickt und Gehenna gesehen.
Und doch würde niemand ihren Worten Glauben schenken. Niemand würde dies je tun, denn sie war verflucht.

Und du und deine Kinder möget als einzige die Wahrheit erkennen, doch niemand wird euch Glauben schenken. Dies sei mein Fluch an dich und deine Nachkommen.

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