Schandmaul Nummer 58
Demagogie oder Dummheit
Hochverehrte Leserschaft,
täglich wirft man im Vorbeigehen Blicke auf das in letzter Zeit relativ ausgestorben wirkende,
buchstäblich spinnwebenverhangene Schwarze (oder Graue) Brett. Umso überraschenderfing
unseren Blick der einsame Aushang, den wir gestern dort erblicken durften, wahrlich, wir
trauten unseren Augen kaum.
Keine Mitteilung der Schulleitung, die Prüfungsphase sei eingeläutet, keine Geburts- und auch
keine Todesanzeige. Nur dieser Zettel, aufgemacht als eine Art Wanted-Plakat, überschrieben
mit dem programmatischen Titel "Kopf(geld)jagd". Jemand sei geächtet worden, und so
weiter und so fort, Todesdrohungen werden ausgesprochen, die Beteiligten genannt, das
Vergehen knapp umrissen, für das die Acht verhängt wurde. So weit, so gewöhnlich. Die
Redaktion zweifelte allerdings aus drei Gründen an der Authentizität (und zumindest der
Seriösität) dieses Schriftstückes.
Erstens: der Titel hält nicht, was er verspricht. Jeder Möchtegern-Kopfgeldjäger wird,
angelockt von der vielversprechenden Überschrift, mangels ausgelobter Geldsumme einen
Teufel tun und gratis dieses ohnehin fragwürdig wirkende Vorhaben unterstützen. Wer
wirklich Hilfe bei der Beseitigung eines Geächteten haben möchte, hätte solch einen
Anfängerfehler vermieden.
Zweitens: die Anweisungen, die hier erteilt werden für den Fall, dass der als vogelfrei
Bezeichnete sich nicht den gestellten Forderungen entsprechend verhält, sind
widersprüchlich. Einerseits wird die Allgemeinheit zum tätlichen Übergriff aufgefordert,
andererseits räumen sich "[die] Kainiten und deren Verbündeten" das "Vorrecht auf
Gefangennahme und Tötung" des von ihnen Geächteten ein. Was soll man denn da nun tun
als engagierter Kopfgeldjäger, wenn man sich hat einlullen lassen von der leeren
Versprechung einer Belohnung? Wir als unerfahrene Gangster halten dieses Manöver des
Autors allerdings für seiner Sache nicht zuträglich.
Drittens: besonders die Grammatik lässt stark zu Wünschen übrig. Von Kommageiz ganz
abgesehen jongliert der Autor scheinbar willkürlich mit Genera: "Lykan gilt im gesamten
Wäldchen als vogelfrei, sollte er diesen [sic! sc. Wäldchen] betreten [...]". So dies kein Projekt
eines Sprachkurses für Weltenwanderer war, hat der Autor hiermit sicher nicht nur grob
fahrlässig getextet, sondern obendrein seine eigene Seriösität als Auftraggeber massiv
geschädigt - etwas, was man sicher hätte vermeiden können, wenn man es ernst meint mit
solch einem Aufruf.
Dergleichen Anschuldigungen und angedrohte Konsequenzen hielten wir, auch wenn wir sie
nicht recht ernst nehmen konnten, für zu gefährlich, um sie einfach dort für jedermann
sichtbar unkommentiert hängen zu lassen, weshalb wir genauer nachgeforscht haben. Dabei
sind wir insbesondere über die genannte Gruppierung der "Kainiten und deren Verbündeten"
gestolpert: unserer Ansicht nach klang das sehr generalisierend, doch auf einen anonymen
Hinweis hin ergab sich, dass die Angelegenheit sich lediglich auf drei Personen beschränkt.
Zum einen auf die beiden Kainiten Coralyne Felicia Mountbatten, welche bereits seit vielen Jahren das Teehaus leitet, und Roarke, ihren Gefährten; erschreckender ist jedoch, dass auch
der Professor für Französisch, Voodoo, Nekromantie, Kunst und Heilkunde, Krèvtor Frìdêjs,
involviert zu sein scheint. Gerade von Letzterem würde man erwarten, dass dieser als
Streitschlichter fungieren würde, nicht zuletzt aufgrund seiner friedfertigen Natur, die er in
seiner Stellung als Pädagoge (eigentlich) mitbringen sollte. Stattdessen jedoch scheint der
Professor diese Hetze und systematische Verunglimpfung nicht nur zu befürworten, sondern
sich obendrein tatkräftig daran zu beteiligen, was uns fragen lässt, ob solch eine Person
weiterhin Einfluss auf unsere Schüler haben sollte.
Darüber hinaus werden die Vorwürfe eines Flammeninfernos (die man zugegebenermaßen
den meisten Schülern, die schon einmal an einem Duell teilgenommen haben, anhängen
könnte) lediglich ergänzt durch ganz im Gegensatz hierzu nur sehr vage umschriebenes
"ungebührliches Verhalten" - das kann ja alles oder gar nichts bedeuten. Unserer Meinung
nach geht es hier lediglich darum, einer persönlichen Fehde (relativ ungelenk) höhere
Bedeutung verleihen zu wollen.
Doch selbst, wenn man all das außer Acht lässt, müsste man stutzen, falls hier tatsächlich
Kainiten jemanden auf dem Schulgelände ächten. Ganz recht, das Wäldchen ist, nach den der
Redaktion zugänglichen Quellen, Teil keiner kainitischen Domäne, sondern gehört zum
öffentlichen Gelände. Also versucht hier eine Minderheit von Individuen, die sich sonst stets
mit ihrer Macht und ihrem Einfluss zu brüsten pflegten, in Lokalitäten, die nicht einmal zu
ihrem Zuständigkeitsbereich gehören, sich Hilfe zu holen (!) gegen einen einzelnen Dämon.
Falls dieses Stück Papier tatsächlich diesem Zwecke dient, können wir darüber
nur verständnislos den Kopf schütteln angesichts dieser tollwütigen, aber ziemlich hilflosen
Aktion. Verehrte betroffene Kainiten und deren Verbündete, das könnt ihr besser.
Wir hoffen, recht zu gehen in unserer Annahme, die Schülerschaft dieser Bildungseinrichtung
sei zu schlau, um auf dergleichen plumpe Manipulationsversuche hereinzufallen und halten
den für besagtes Plakat Verantwortlichen freundlich dazu an, es wieder zu entfernen, um sich
weitere Lächerlichkeiten zu ersparen.
Euer Schandmaul
Anmerkung der Redaktion:
Auf weitere Nachfrage bei den Zuständigen der Triskele, nahm Louis de Lioncourt Stellung zu dieser sich anbahnenden Tragödie. Das Wäldchen befände sich, ähnlich wie das Teehaus, in einer Grauzone und sei nicht zwingend dem Schulgelände zugehörig. Für gewöhnlich hält sich die Triskele sowie Schulleitung deshalb aus den Angelegenheiten dort heraus und überlässt diese den ASgaB, wenn nötig. Zudem sei die Abneigung zwischen Kainiten und Wolfswesen zwar bedauerlich, würde aber durchaus in ihrer Natur liegen. Prof. de Lioncourt - selbst liebender Vater einer angesehenen Werwölfin und verheiratet mit einem Werwolf - würde jedoch eine friedliche Einigung bevorzugen, gerade da Lehrkräfte der Schule involviert zu sein scheinen. Während der öffentlichen Audienzen könnten sich alle betroffenen Parteien auf neutralem Boden Gehör verschaffen.